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Angelika Adensamer: »Am Ende bleibt die beste Kriminalpolitik eine gute Sozialpolitik«

An Wiener Schulen fehlt es hinten und vorne an Ausstattung und Personal. Statt sich darum zu kümmern, fordert der Wiener Stadtrat Wiederkehr nun härtere Maßnahmen gegen kriminelle "Gfraster". Damit meint er Kinder unter 14, bei denen Integrationsangebote "nichts bringen" würden. Angelika Adensamer, Sprecherin von LINKS und Kandidat:in auf Listenplatz 2 auf der Wiener Liste bei den kommenden Nationalratswahlen, ist ausgebildete Juristin und Kriminologin. Rainer Hackauf hat ihr zu den aktuellen Diskussionen um Jugendkriminalität wie auch einer Zwei-Klassen-Justiz Fragen gestellt.

NEOS-Stadtrat Wiederkehr setzt in Vorwahlkampfzeiten scheinbar auf Law and Order. Vermeintliche renitente Kinder unter 14 sollten zur Teilnahme an sogenannten “Neustartprogrammen” außerhalb Wiens verpflichtet werden können. Dort sollten diese Kinder ihr “Verhalten reflektieren”, so der Jugendstadtrat. Unter 14 ist man in Österreich aus gutem Grund strafunmündig, was sagst du zu diesem Vorschlag?

Eine Senkung der Strafmündigkeit fordert Wiederkehr immerhin nicht. Wie Kinder zur Teilnahme an diesen Programmen verpflichtet werden sollen und wie diese gestaltet werden sollen, bleibt unklar. Deutlich ist aber, dass er sich hier einer Rhethorik bedient, die auch bei Rechten beliebt ist: gesprochen wird von “härteren Maßnahmen”, Disziplinierung und Zwang. Politisch kann man sich so deutlich positionieren, den starken Mann darstellen und muss sich nicht mit den echten – viel komplizierteren Problemen auseinandersetzen. Was nicht zur Sprache kommt, sind die sozialen Ursachen und Lebensumstände der Kinder, um die es hier geht und wer eigentlich dafür zuständig wäre, bessere Bedingungen für sie zu schaffen. Ich finde es absurd, Kindern die Schuld an ihrer sozialen Lage zu geben.

Man muss sich überlegen, wie gesellschaftliche und soziale Probleme gelöst werden – nämlich selten durch Polizei, Strafen und Gefängnisse, das zeigen sozialwissenschaftliche Studien für fast alle Delikte und Bevölkerungsgruppen. Dass Strafen und Gefängnisse keine positive Wirkung auf die Gesellschaft haben und Kriminalität nicht verringern, sondern die Sozialisierung von Menschen, die in Haft waren nur erschweren, ist belegt, aber dennoch halten wir als Gesellschaft vehement daran fest.

Der Fokus muss gerade für junge Menschen darauf liegen, zu versuchen, ihnen eine Position zu verschaffen, in der sie an der Gesellschaft teilhaben können, und auch einen Selbstwert aufbauen können, indem sie zum Beispiel etwas machen können, auf das sie selbst stolz sind und für das sie Anerkennung bekommen, anstelle von der Gesellschaft einen Zuschauer*innenplatz zugewiesen zu bekommen.
Die Zeit als Jugendliche*r und junge Erwachsene ist eine schwierige, die meisten von uns können sich daran erinnern, dass es eine große Herausforderung ist, sich im Leben zurechtzufinden. Wenn man nun keine Familie und keine Institutionen hat, die einen dabei unterstützen, wird es fast unmöglich. Man darf Kinder jedenfalls nicht “abschreiben” und wegsperren, sobald sie strafmündig sind, damit ruiniert man ihr Leben.

Zugleich darf man auch nicht so tun, als ob es keine echten Interventionen bräuchte, wenn sie gewalttätig werden. Das hilft weder ihnen, noch ihrem Umfeld und schon gar nicht der Gesellschaft. Wie viel Zwang Teil dieser Interventionen sein darf, ist eine schwierige Frage. Jedenfalls müssen sich die Maßnahmen aber daran orientieren, ob sie tatsächlich langfristig auch zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, sie dürfen nicht hauptsächlich stigmatisieren und Kindern und Jugendlichen Chancen verbauen.

Auslöser dafür ist, in den letzten Monaten wird wieder einmal vermehrt über Jugendkriminalität berichtet. Dadurch kann man den Eindruck gewinnen, dass diese zunimmt. Wird es immer gefährlicher bei uns? Was sagt die Kriminalstatistik dazu?

Eine Kriminalstatistik kann man immer nur in Jahresabständen rückblickend beurteilen und sie ist stark abhängig von der Aufmerksamkeit, die es für eine Form von Kriminalität gibt, sei es in den Medien oder durch die Polizei. Deswegen sind die Zahlen nicht das beste Maß für die tatsächlichen Entwicklungen. Wenn ein Ort öfter als Problem in den Medien steht, wird dort öfter kontrolliert, in Folge öfter etwas angezeigt, und die Kriminalstatistik steht dann wieder in den Medien – es ist ein Kreislauf.

Jedenfalls gibt es rund um Orte, wie den Reumannplatz oder den Brunnenmarkt schon seit Jahren immer wieder Aufregung, zum Beispiel wegen Drogenhandel. Diese mediale und politische Aufmerksamkeit ist oft eindeutig rassistisch motiviert und fabriziert. Zugleich habe ich aber in den letzten Wochen gleich mehrere Male gewaltvolle Szenen rund um den Yppenplatz beobachtet, und ich höre auch von Menschen, die dort wohnen, dass Prügeleien dort inzwischen fast an der Tagesordnung stehen. Man darf als Linke auch nicht in die Falle tappen, so zu tun, als gäbe es diese Probleme nicht. Das macht uns unglaubwürdig und trägt auch zu Lösungen nicht bei.

Der NEOS-Stadtrat Wiederkehr spricht sich im Wahlkampf auch für mehr Abschiebungen und mehr Polizei aus. Forderungen, die von Politiker:innen gerne gestellt werden, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Bedeutet mehr Polizei aber wirklich weniger Kriminalität?

Dass sogenannte Liberale plötzlich Abschiebungen als Strafe fordern, finde ich besonders schlimm. Wenn Menschen in Österreich Asyl bekommen haben, heißt das, sie werden in ihrem Heimatland verfolgt, wenn sie subsidiären Schutz haben, dass die Abschiebung ihrem Recht auf Leben oder dem Folterverbot widerspricht. Umgekehrt bedeutet also eine Abschiebung, man nimmt Verfolgung, Tod oder Folter in Kauf. So gesehen, finde ich es unerträglich, dass es als akzeptabel gesehen wird, Abschiebungen als Strafe einzusetzen.

Nein, was die Polizei macht, ist einfach Symptombekämpfung. Und auch das oft nur in der Form, dass das Problem verlagert wird: wenn in einem Gebiet mehr kontrolliert wird, verschieben sich die Probleme meistens einfach woandershin. Am Ende bleibt die beste Kriminalpolitik eine gute Sozialpolitik. Kriminalität ist so gut wie immer die Folge sozialer Missstände, und diese müssen auch gesellschaftlich gelöst werden.

Wenn Kriminalität eine soziale Frage ist, welche Lösungsvorschläge gibt es? Was braucht es dann eigentlich mehr?

Ich denke, gerade in Bezug auf Jugendkriminalität wird deutlich, wie wichtig ein gesamtes funktionierendes Netz für Jugendliche ist. Im Jugendbereich gibt es massive Defizite: in den Schulen, in der Drogenhilfe, in der psychischen Betreuung oder in der Obdachlosenhilfe. Auch niederschwellige Aufenthaltsorte und Freizeitangebote müssen ausgebaut werden, den Jugendlichen müssen Perspektiven gegeben werden. Oft wird dann die ganze Verantwortung auf die Eltern geschoben, dabei kommen die vielleicht selbst nur mit Mühe über die Runden.

Und wenn die Eltern gar nicht da sind, dann dürfen die Kinder nicht im Stich gelassen werden. Geflüchtete Jugendliche – also sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – sind zum Beispiel im Haus Erdberg mit einem Betreuungsschlüssel 1:10 untergebracht – das ist viel zu niedrig! Teilweise wird die Obsorge für sie zu spät geklärt und sie gehen im System “verloren”. Manche werden Opfer von Menschenhandel. Eigentlich wundert mich gar nicht, dass man die Folgen der Vernachlässigung des gesamten Jugendbereichs nun auch in den Extremen zu sehen bekommt.

Kriminalität ist immer auch eine Klassenfrage, wie schon Marx bemerkt hat, als er etwa über den Holzdiebstahl geschrieben hat. Arme Bevölkerungsgruppen wurden und werden von der Obrigkeit gerne als besonders gefährlich wahrgenommen. Warum ist das so?

Tatsächlich ist es in der Kriminalstatistik zwar so, dass Fremde überdurchschnittlich stark repräsentiert sind, dass diese Unterschiede aber aufgelöst werden, wenn man die andere Faktoren miteinbezieht. Ob jemand arm oder reich ist, ist stärker ausschlaggebend dafür, ob jemand kriminell wird. Das hat viele Gründe, angefangen von der Notwendigkeit, zum Beispiel bei Diebstahl oder Drogenhandel, hat aber auch mit dem Risiko entdeckt zu werden zu tun.

Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen, werden sich eher dazu entscheiden, unter hohem Risiko zum Beispiel Geld mit Drogen dazuzuverdienen. Diese Kriminalität wird gesellschaftlich überbewertet: mit kleinen Mengen Drogen zu handeln, richtet kaum einen gesellschaftlichen Schaden an, saftige Gefängnisstrafen bekommt man dafür aber trotzdem. Auf der anderen Seite sitzen die Schuldigen in großen Finanzverbrechen selten überhaupt ein.

Martin Kreutner, Vorsitzender einer Expert:innenkommission des Justizministeriums, hat dieser Tage von einer Zwei-Klassen-Justiz in Österreich gesprochen. Was müsste sich hier ändern?

Bei der Zwei-Klassen-Justiz – die gerade in den Medien viel diskutiert wird – geht es darum, dass bekannte und gut vernetzte Politiker*innen, die selbst Beschuldigte waren oder sind, im Justizministerium direkt intervenieren und Informationen zu ihren Fällen bekommen können. Diese Art der Korruption und Beeinflussung der Justiz muss jedenfalls aufhören, eine unabhängige Staatsanwaltschaft unter eine*r Generalstaatsanwält*in wäre zum Beispiel ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Rund um den vermeintlichen “Kriminalitäts-Hotspot” Reumannplatz hat die KPÖ bei den EU-Wahlen ein besonders starkes Ergebnis. Auch im ärmsten Bezirk Wiens wird überdurchschnittlich oft links gewählt, wie wir etwa von der letzten Gemeinderatswahl wissen. Die betroffenen Bewohner:innen setzen hier also eher auf solidarischen Antworten. Was können wir für die bevorstehenden Wahlen daraus lernen?

Ja, es wundert mich gar nicht, dass dort, wo die Menschen weniger verdienen, sie auch eher eine Partei wählen, die sich für ihre Interessen einsetzt. Man sieht zugleich auch, dass eine rassistische Politik oft gerade dort gut ankommt, wo gar keine Migrant*innen leben.

Schlimm finde ich, dass man in den Wahlkämpfen auf der Straße immer wieder mitkriegt, was das restriktive Wahlrecht und Staatsbürgerschaftsrecht in Österreich bedeuten: so viele Wiener*innen dürfen gar nicht wählen und sind damit auch nicht politisch repräsentiert! Das muss sich ändern!

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