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Kevin Guillas-Cavan: »Der Erfolg der linken Volksfront ähnelt eher einem Patt als einem echten Sieg in Frankreich«

Frankreich hat gewählt. In zwei Wahlgängen wurden im Juni und Juli die 577 Abgeordneten der 17. Nationalversammlung bestimmt. Während im ersten Wahlgang noch die rechtsextreme Nationale Sammelbewegung (RN) um Marine Le Pen an erster Stelle lag, konnte das Bündnis der linken Volksfront den zweiten Wahlgang schließlich für sich entscheiden. Kevin Guillas-Cavan, Sozialwissenschaftler und Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), im Interview mit Rainer Hackauf zum überraschenden Ausgang der Wahlen in Frankreich.

Die linke Volksfront hat in Frankreich die Wahlen gewonnen. Für Medien und Kommentator:innen in Österreich war das überraschend, wird hier doch nur über Macron und Le Pen berichtet. Wie war das Ergebnis für euch, hast du damit gerechnet?

Kevin Guillas-Cavan: Ganz ehrlich? Nein, niemand hat dieses Ergebnis erwartet. Mit dieser Wahl stolpern wir von einer Überraschung zur nächsten. Die erste Überraschung war die rasche Gründung der Nouveau Front populaire (Neuen Volksfront). Es war keineswegs garantiert, dass das klappt. Der Europawahlkampf war auf der linken Seite besonders heftig. Die linken Parteien haben sich gegenseitig ständig zerfleischt. Mit nur fünf Tagen für die Einreichung der Listen – dem von der Verfassung erlaubten Minimum – hoffte Macron, dass es der Linken nicht gelingen würde, sich zu einigen. Sie schaffte es jedoch und einigte sich in Rekordzeit auf ein Programm und eine Aufteilung der Wahlkreise. Dies führte zur ersten Überraschung, nämlich dass die Volksfront Macron im ersten Wahlgang deutlich überholte (28% gegenüber 21%) und sich in 446 Wahlkreisen für den zweiten Wahlgang qualifizierte. Die zweite Überraschung des ersten Wahlgangs war jedoch Macrons Ergebnis. Mit 21% konnte er sich in 319 Wahlkreisen qualifizieren. Das französische Wahlrecht erlaubt es nämlich einer Partei, die drittplatziert ist, aber die Stimmen von mehr als 12,5% der Wahlberechtigten erhalten hat, auch im zweiten Wahlgang anzutreten. Mit 306 möglichen Dreieckswahlen war eine absolute Mehrheit für den RN nun sehr wahrscheinlich. Um das zu verhindern, hat die Volksfront sofort angekündigt, ihre Kandidat:innen zurückzuziehen, wenn sie hinter Macron oder den Konservativen gelandet waren. Nach einigem Zögern stimmte Macron schließlich zu, das Gleiche zu tun. Es war jedoch keineswegs garantiert, dass die Wähler:innen den Empfehlungen ihrer Partei folgen würden. Doch allen Erwartungen zum Trotz hielt der „republikanische Damm“ noch einmal und war besonders effizient. Dank der Dynamik des ersten Wahlgangs wurde die Volksfront unerwartet stärkste Kraft mit 182 Sitzen. Aber noch unerwarteter ist Macron mit seinen 168 Abgeordneten der Volksfront dicht auf den Fersen und liegt vor dem RN. Es ist also ein unerwarteter Sieg, vielleicht sogar ein Pyrrhussieg, weil die Volksfront in letzter Instanz Macron gerettet hat. Auf jeden Fall ist es ein fragiler Sieg, da es keine Mehrheit gibt. Die Nationalversammlung ist gespalten wie nie zuvor. Die Volksfront hat keine Mehrheit, um ihr Programm durchzusetzen, und könnte zu einer Form der großen Koalition mit Macron gezwungen werden. Dank des linken Bündnisses hat Macron es nicht geschafft, sich noch einmal als einzige Alternative zum RN zu etablieren, aber sein Poker hat sich dennoch ausgezahlt. Der Erfolg der Volksfront ähnelt eher einem Patt als einem echten Sieg.

In Österreich läuft die Debatte selbst in liberalen Medien so, dass der Aufstieg der Rechten nur durch rechte Politik gestoppt werden könne. Daher rutschen bei uns auch SPÖ und Grüne immer weiter nach rechts. Frankreich hat gerade bewiesen, dass es auch anders geht. Ist die Volksfront die geeignete Taktik, um den Aufstieg der extremen Rechten zu stoppen? Was sind für dich die entscheidenden Rezepte gegen rechte Politik?

Kevin Guillas-Cavan: Wir müssen ehrlich sein. Jahrelang haben viele Stimmen behauptet, dass ein Zusammenschluss der linken Parteien mit einem gemeinsamen Programm den entscheidenden Ausschlag für einem eklatanten Sieg geben würde. Aus der Ferne betrachtet mag es aussehen, als sei genau das passiert, aber das ist nicht wahr. Die Volksfront erreichte weniger Stimmen als die Summe der linken Parteien, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Volksfront schneidet etwas besser ab als die NUPES, das Wahlbündnis, das 2022 geschlossen wurde (28,1% gegenüber 25,7% im ersten Wahlgang). Aber nur weil die Gefahr, dass der RN an die Macht kommt, diesmal größer war. Es handelt sich eher um eine „republikanische Angstreaktion“ als um eine Begeisterung für das Programm. Vor allem aber schnitt die Volksfront im zweiten Wahlgang deutlich besser ab als die NUPES (182 Abgeordnete gegenüber 131), weil sie auf einer weiteren „Combinazione“, der so genannten „republikanischen Front“ beruht, die es 2022 nicht gab. Das heißt, die Volksfront hat nur deswegen gewonnen, weil sich Macrons Kandidaten in 89 Wahlkreisen zu ihren Gunsten zurückgezogen haben. Aber wie ich es schon gesagt habe, gleichzeitig hat die Volksfront Macron gerettet, indem sie in 127 Wahlkreisen zu ihren Gunsten zurückgetreten ist. Diese Strategie der „republikanischen Front“ kann keine Strategie sein, um die extreme Rechte zu stoppen. Der RN hat zwar vordergründig verloren, verdoppelt aber seine Stimmen in absoluten Zahlen und auch seine Anzahl an Abgeordneten im Vergleich zu 2022. Nach der Anzahl der Stimmen ist der RN mit 8,7 Millionen Wählern die größte Partei in Frankreich. Es gibt also eine schlimmere Niederlage! Die Strategie der „republikanischen Front“ ermöglicht damit keine linke Mehrheit. Die wichtigste Herausforderung besteht für uns also darin, die Wählerschaft der Linken im ersten Wahlgang zu erweitern. Die Linke als Ganzes mobilisiert nur noch einen von fünf Wahlberechtigten, während es 2012 noch einer von vier und 1981 einer von drei war. Die Linke ist in einem Dilemma gefangen. Die Volksfront ist zwar eine notwendige Strategie aufgrund des Wahlverfahrens der fünften Republik. Um den zweiten Wahlgang zu gewinnen, muss man sich bereits für diesen qualifizieren. Das Bündnis garantiert dies. Gleichzeitig löst das Bündnis jedoch keine wirkliche Begeisterung aus. Das linke Programm ist ein Kompromiss, der niemanden zufrieden stellt. Schlimmer noch: Da es die linke Wählerschaft nicht erweitert, ist das Bündnis damit auch nicht mehrheitsfähig, kann sein Programm nicht umsetzen und enttäuscht die Wähler:innen. Das könnte schlussendlich sogar den RN stärker machen.

In Österreich wurde Emmanuel Macron von Medien als »Macher« abgefeiert, auch etwa für seine Pensionsreform. In Frankreich ist seine Politik in der Bevölkerung hingegen nicht so gut angekommen. Welche unsozialen Einschnitte hat es unter Macron in den letzten Jahren gegeben?

Kevin Guillas-Cavan: Bei mir in Westfrankreich gibt es ein altes Sprichwort: »Bauen und zerstören ist immer etwas machen«. In diesem Sinne ist Macron ein »Macher«. Er hat eine Vielzahl von Reformen durchgeführt, ohne dass es dafür eine Mehrheit gab. Bereits in den ersten Wochen seiner ersten Amtszeit setzte er per Dekret eine große Reform des Arbeitsrechts durch, die Entlassungen erleichterte, Sozialleistungen kürzte und die Betriebsräte schwächte. Wir haben auch die Rentenreform erlebt, die er ohne Abstimmung im Parlament und trotz des Widerstands von 70 bis 80% der Franzosen durchsetzte. Damit wurde das Pensionsantrittsalter um zwei bis drei Jahre erhöht. Er setzte auch durch, dass der Staat die Arbeitslosenversicherung, die bisher von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern verwaltet wurde, wieder in die Hand nahm. Diese Reform ändert, wie das Arbeitslosengeld berechnet wird – natürlich zum Nachteil der Erwerbsarbeitslosen – und zwingt Langzeitarbeitslose dazu, praktisch unbezahlte »gemeinnützige Arbeit« zu akzeptieren. Kurzum: Er hat ein neoliberales Programm geführt, wie man es aus vielen Ländern kennt. Dadurch wurden die reaktionären Reformen, die Sarkozy und Hollande eingeführt haben, beschleunigt! Die Besonderheit des „Macronismus“ gegenüber Sarkozy oder Hollande liegt in seiner Brutalität. Er zeichnet sich mit einem polizeilichen oder sogar militärischen Umgang mit den verschiedenen sozialen Bewegungen aus: Gewerkschafter, die während der Rentenbewegung durch Antiterrorgesetze unterdrückt wurden, »exemplarische« Strafen für rebellierende Jugendliche in den Banlieues, Dutzende von »Gelbwesten«, die durch Granaten geblendet oder schwer verletzt wurden, oder die Entsendung der Armee gegen antikoloniale Aufstände in den Überseedepartements und -gebieten, wie derzeit in Neukaledonien, wo bereits zehn Menschen gestorben sind. Der Macronismus stellt eine Radikalisierung der Bourgeoisie dar, die eine Beschleunigung der liberalen Reformen fordert. Er nutzt den militärisch-sicherheitspolitischen Komplex, um das durchzusetzen. Um es mit den Worten von Antonio Gramsci zu sagen: Mit Macron werden die führenden Klassen auf die herrschenden Klassen reduziert. Noch nie wurde ein Präsident so sehr gehasst wie Macron. Das macht die jüngsten Ergebnisse so unerwartet. Viele befürchteten, dass der »republikanische Damm« brechen würde, dass linke Wähler nicht mehr bereit wären, für Macron zu stimmen, oder sogar der RN bevorzugen würden. Die Angst vor dem RN ist glücklicherweise immer noch größer als die Abneigung gegen Macron. Dass die Wähler Macron dem RN bisher noch vorziehen, geht aber wahrscheinlich nicht so weit, dass sie eine Art »großer Koalition« akzeptieren würden. Das macht die derzeitige Situation so komplex. Es gibt drei gleichberechtigte Blöcke in der Versammlung, aber es ist undenkbar, dass die Linke mit Macron regiert. Und es ist undenkbar, dass er mit der gesamten Linken und insbesondere mit den Unbeugsamen (FI) regiert. Denn jeder Kompromiss beim Wirtschaftsprogramm ist für die Bourgeoisie unerträglich.

Die Volksfront ist ein Bündnis aus unterschiedlichen Parteien. Wieso hat sich die Kommunistische Partei (KPF) entschieden, im Rahmen des Bündnisses anzutreten und nicht alleine? Wie sieht das Ergebnis für euch aus?

Kevin Guillas-Cavan: Die Frage hat sich gar nicht gestellt. Angesichts des Risikos, dass der RN an die Macht kommen könnte, war die Strategie der Volksfront und dann der republikanischen Front eine absolute Notwendigkeit. Grundsätzlicher geht es für uns Kommunisten darum, das doppelte Ziel zu erfüllen, das uns das »Manifest der Kommunistischen Partei« vorgibt: Wir »kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse« aber zugleich müssen wir »in der gegenwärtigen Bewegung die Zukunft der Bewegung« vertreten. Die Vermeidung einer absoluten Mehrheit für den RN war also das absolut unmittelbar vorliegende Interesse der arbeitenden Klasse. Und selbst wenn das Programm der Volksfront ein lauwarmer Kompromiss ist, entspricht es den unmittelbar vorliegenden Interessen der Arbeitenden. Die Umsetzung dieses Reformprogramms würde der französischen Bevölkerung Zeit zum Atmen lassen, die sie nach Jahrzehnten neoliberaler Politik dringend braucht: Die Erhöhung des Mindestlohns um 15%, die Erhöhung der Beamtengehälter um 10%, die Rente mit 60, das Einfrieren der Preise für Lebensmittel, Energie und Benzin, die Anpassung der Löhne und Renten an die Inflation, der Bau von 200.000 Sozialwohnungen pro Jahr – all das würde das Leben vieler Menschen zum Besseren verändern. Die Kommunistische Partei geht jedoch aus der Abfolge der letzten Wahlgänge sehr geschwächt hervor. Mit unseren 2,5% bei den letzten Präsidentschafts- und EU-Wahl haben die anderen linken Parteien uns diesmal 50 Wahlkreise überlassen, die zu den umkämpftesten gehören. Das heisst, der RN hatte dort die größten Chancen zu gewinnen. Wo wir Abgeordnete hatten, mussten sich diese gegen die Flutwelle des RN behaupten. In Nordfrankreich und im Kohlebecken verloren wir vier Abgeordnete bereits im ersten Wahlgang, darunter den Wahlkreis unseres Nationalsekretärs. Insgesamt ist die KPF von zwölf auf neun Abgeordnete geschrumpft. Mit der Verstärkung durch acht Abgeordnete von Schwesterparteien aus Übersee rettet die KPF ihre Fraktion. Dieser werden sich vielleicht auch einige Abgeordnete der FI anschließen, die dort ausgeschlossen wurden, weil sie Jean-Luc Mélenchon und den Mangel an innerer Demokratie in der Bewegung kritisiert haben. Über die KPF hinaus fällt die Bilanz für die so genannte »Aufbruchslinke« – also der Teil der Linksparteien, die einen Bruch mit dem gegenwärtigen Kapitalismus oder dem Kapitalismus überhaupt will – halbherzig aus. Zwar bleibt die FI die größte Fraktion, aber die »Aufbruchslinke« verliert die absolute Mehrheit innerhalb der Linken. Den 101 Sozialdemokraten und Grünen – bei uns die sogenannte »sozial flankierende Linke« – stehen nun nur 86 Abgeordnete der »Aufbruchslinken« gegenüber. Damit sind wir wieder bei dem Dilemma der Linken, von dem ich vorher gesprochen habe. In der Linken haben wir zwei Blöcke und keiner davon ist wirklich dominant. Jean-Luc Mélenchon hat vor einigen Jahren gemeint, dass es sich dabei um »zwei unversöhnliche linke Richtungen« handle. Doch aufgrund der Funktionsweise der Wahlen in der fünften Republik und der Gefahr durch den RN müssen sie versöhnt werden. Das erfordert Kompromisse. Aber gleichzeitig muss man eine vollständige Alternative zum liberalen Kapitalismus Macrons und zum liberalen Kapitalismus ethnischer Trennung des RN bieten. Es müssen also Kompromisse geschlossen werden, aber diese müssen sich in Grenzen halten, und dafür braucht es eine klare Führung auf Seiten der Linken. Das ist die Herausforderung der nächsten Jahre. Wir müssen das Kräfteverhältnis in der Linken klären und innerhalb der Linken die »Aufbruchslinke« stärken. Das sollte weniger über ein Nullsummenspiel laufen, bei dem wir der Sozialdemokratie Stimmen wegnehmen, sondern vielmehr über eine Erweiterung des linken Wählerspektrums. Das ist nur möglich, wenn jede Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt einzeln antritt.

Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der Volksfront-Taktik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und heute?

Kevin Guillas-Cavan: Beide sind in Wirklichkeit sehr unterschiedlich. Die neue Volksfront ist ein Bündnis ab dem ersten Wahlgang, gekoppelt mit einer de facto Rückzugsvereinbarung zwischen den beiden Wahlgängen mit Macron. Die Volksfront von 1936 war jedoch eine Rückzugsvereinbarung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten im zweiten Wahlgang. Die Partei mit dem schlechteren Ergebnis zog sich für die Partei mit den meisten Stimmen zurück, aber beide konkurrierten in der ersten Runde gegeneinander. Und das sozialdemokratisch-kommunistische Bündnis konkurrierte im ersten und auch im zweiten Wahlgang mit der dritten Partei der Koalition, den »Radikalen« – die trotz ihres Namens eine Mitte-Links-Partei waren. Dies ermöglichte eine Klärung des Kräfteverhältnisses zwischen den linken Parteien. Dank der taktischen Rücktritte nahm das »sozialistische Lager« der »bürgerliche Linken«, wie es damals hieß, den ersten Platz weg. Die »Radikalen« blieben mit 162 Abgeordneten die größte Partei, doch dank der Unterstützung der Kommunisten übernahmen die Sozialdemokraten die Führung und ernannten Léon Blum zum Premierminister. Heute gibt es kein dominantes Lager innerhalb der Linken. Sowohl die unbeugsamen France Insoumise als auch die Sozialdemokraten reklamieren daher seit einer Woche den Premierminister für sich. Man muss dazu allerdings sagen, dass es 1936 keine Notwendigkeit für ein Bündnis ab dem ersten Wahlgang gab, da keine Gefahr bestand, dass die extreme Rechte durch die Wahl die Macht erobert. In den 1930er Jahren gab es in Frankreich keine rechtsextreme Partei. Die größte Gefahr bestand in einem Putsch der extremen Rechten. Gegen einen solchen Versuch am 6. Februar 1934 wurde auch die erste Volksfront gegründet. Ein dritter Unterschied besteht in den gesamten Ergebnissen. Mit 386 von 608 Abgeordneten hatte die Volksfront von 1936 eine breite Mehrheit, um zu regieren und ihr Programm umzusetzen. Ihr einziger Gegner war damals das Kapital, das die Regierung unter Druck setzte, indem es sich aus Frankreich zurückzog, was in Frankreich die »Geldmauer« genannt wird und bereits 1924 zum Sturz einer früheren Linksregierung geführt hatte. Heute muss jedoch zuerst im Parlament gegen Macron gekämpft werden, und dann muss gegen das Kapital gekämpft werden.

Wie siehst du die Rolle der Gewerkschaften einst und heute?

1936 trat die CGT sofort in den Streik, um das Kapital unter Druck zu setzen. Innerhalb weniger Tage hatte die CGT fast vier Millionen Gewerkschaftsmitglieder gewonnen und Tausende von Fabriken besetzt. Dies ermöglichte es der Volksfront, viel weiterzugehen als ihr ursprüngliches Programm, das sehr begrenzt war. Die CGT versucht zwar, auch heute wieder zu mobilisieren, aber die anderen Gewerkschaften – die damals nicht existierten – zögern leider. Und vor allem gibt es keine spontane Bewegung. Es herrscht eine gewisse abwartende Haltung. Wir wissen noch nicht, ob sich die KPF an einer möglichen Volksfrontregierung beteiligen wird. Sicher ist aber, dass die Abwesenheit der kommunistischen Abgeordneten nicht viel ändern würde. 1936 konnten die kommunistischen Abgeordneten die Regierung jederzeit zu Fall bringen. Wir haben nicht das gleiche Gewicht.

Nun steht die Regierungsbildung an. Wird das linke Bündnis halten oder bald wieder zerfallen? Wie schätzt du das ein? Deine Prognose?

Kevin Guillas-Cavan: In Frankreich obliegt es dem Präsidenten, den Premierminister zu ernennen. Er muss auch niemanden aus der erstplatzierten Koalition dafür auswählen. Im Moment weigert sich Macron, einen linken Premierminister zu ernennen, solange Sozialdemokraten und Grünen nicht bereit sind, sich von France Insoumise zu trennen und in eine Koalition mit seiner eigenen Partei einzutreten. Die Sozialdemokraten sind jedoch überraschend standhaft und weigern sich, die Verantwortung für das Sprengen der Volksfront zu übernehmen. Die Linke fordert geschlossen, dass Macron den Premierminister ernennt, der von links vorgeschlagen wird. Alles wird jedoch dadurch kompliziert, da es keine klare Mehrheit innerhalb der Volksfront gibt. Doch selbst wenn ein linker Kompromiss erreicht wird, ist es jedoch nicht sicher, dass Macron diesem Vorschlag zustimmen wird. Es ist ein Spiel der Geduld und wer am längsten durchhalten kann. Denn alleine die Vorstellung einer linken Minderheitsregierung ist für Macron und das Kapital schon unerträglich. Auch eine Minderheitsregierung kann in Frankreich per Dekret viel erreichen. Sie kann zum Beispiel den Mindestlohn, die Pensionen und die Gehälter der Beamten erhöhen –  auch ohne eine Mehrheit im Parlament. Für den Rest des Programms wäre sie aber auf Mehrheiten im Parlament angewiesen. Eine Minderheitsregierung darf jedoch auch ein Gesetz ohne Abstimmung erlassen, wenn die Opposition sich nicht auf einen gemeinsamen Misstrauensantrag einigt. Dieses Vorgehen hat Macron sehr oft angewendet, um seine Gesetze durchzubringen. Macron und die Konservativen würden dann vor der Wahl stehen, entweder die linken Reformen zu akzeptieren oder gemeinsam mit der RN einen Misstrauensantrag zu stellen. Das mag ein- oder zweimal durchgehen, aber es wird nicht lange halten. Mehrere Abgeordnete von Macrons Partei haben bereits erklärt, dass sie bereit wären, mit dem RN zu stimmen, um die Regierung zu stürzen. Spätestens bei der Abstimmung über den Haushalt 2025, daher diesen Dezember, wird die Regierung stürzen, weil sie die Steuern für die Reichsten und das Kapital erhöhen muss, um ihre Maßnahmen zu finanzieren. Nur durch eine »außerparlamentarische Massenbewegung« könnte eine Mehrheit zustande kommen, wenn es gelänge Macron dazu zu zwingen, die Regierung nicht zu stürzen. Die Volksfront muss daher nun die Krankheit der französischen Linken vermeiden und darf die 400 überparteilichen Organisationen, die die Volksfront mitbegründet haben, nicht vergessen. Zudem darf die Volksfront sich nicht mit Macron kompromittieren. Das würde den RN zur einzigen Alternative zu Macron machen. Die Volksfront ist »zum Erfolg verdammt«, wie Sophie Binet, die Generalsekretärin der CGT es ausdrückt. Das wird ihm nicht durch eine Große Koalition mit Macron gelingen. Denn der RN ist nicht besiegt und wartet auf seine Chance. Die Wahlen 2027 sind nicht mehr weit entfernt.

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