Markus Grass: »Aktiv verhindert wird eine grundlegende Bildungsreform von ÖVP und FPÖ«

»Aktion Wir haben nicht genug« Theodor Kramer Schule. Markus Grass rechts im Bild.

Im Osten Österreichs naht der Schulbeginn – kommende Woche ist es so weit. Zugleich gibt es für Wien neue Daten, die die Ungleichheit im Schulsystem eindrücklich belegen. Die ungleiche soziale Lage der Bezirksbevölkerungen führt dazu, dass schon auf Volksschulebene keine gleichmäßige Durchmischung der Schüler:innen besteht. Nach Abschluss der Volksschule, im Alter von zehn, trennen sich in Österreich die Wege der Kinder in Gymnasien und Mittelschulen. Hier zeigt sich, dass die Mittelschulen in Wien flächendeckend – also auch in den reicheren Bezirken – als Sammelbecken für Kinder mit schwierigen sozialen Voraussetzungen fungieren. Wir haben den Gewerkschafter Markus Grass von der Österreichische LehrerInnen Initiative (ÖLI-UG) dazu befragt.

Die ungleiche soziale Lage der Bezirksbevölkerungen in Wien führt dazu, dass schon auf Volksschulebene keine gleichmäßige Durchmischung der Schüler:innen besteht. Was müsste sich bei der Einschulung ändern?

Als AHS-Lehrer kenne ich die Einschulung aus meiner eigenen Erfahrung nicht. Es gibt aber überwältigende Evidenz, dass die Elementarpädagogik eine Schlüsselrolle dabei spielen könnte, um Nachteilen entgegenzuwirken, die Kinder aus Haushalten mit schwierigen sozialen Voraussetzungen haben. Deshalb sollte es in diesem Bereich ein größeres und besseres Angebot geben, zum Beispiel kleinere Gruppengrößen, bessere Bezahlung.

Nach Abschluss der Volksschule, im Alter von zehn Jahren, trennen sich in Österreich die Wege der Kinder in Gymnasien und Mittelschulen. Die Bildungsungleichheit setzt sich damit anhand sozialer Voraussetzungen verstärkt fort. Wer profitiert von der Zwei-Klassen-Schule?

Auf jeden Fall ist die frühe Trennung nicht gerechtfertigt und verschärft soziale Benachteiligung, anstatt ihr entgegenzuwirken. Was sich an Volksschulen in der vierten Klasse abspielt, ist teilweise dramatisch. Volksschul-Lehrer:innen stehen unter massivem Druck. Kinder aus finanziell bessergestellten Haushalten und mit dem richtigen Habitus – im Sinne von Bourdieu – haben dabei enorme Vorteile. Ganz zu schweigen davon, dass viele Eltern weder die Zeit noch das notwendige – schlulrechtliche – Wissen haben, um sich für bessere Beurteilungen für ihre Kinder „einsetzen“ zu können. Die frühe Trennung ist ein wesentlicher Bestandteil der Schule als „Segregationsmaschinerie“, wie ein lieber Kollege von mir das zu nennen pflegt.

Ergänzen möchte ich noch, dass ein massiver Ausbau des Angebots im Bereich der Elementarpädagogik, insbesondere auch eine angemessene Bezahlung der Kindergarten-Pädagog:innen, ein wichtiger Teil einer inklusiven und nicht diskriminierenden Bildung sein muss.

Das Thema Gesamtschule ist nicht neu. Die Forderung nach Einführung der Einheitsschule war schon 1920 Kernstück des von Otto Glöckel verkündeten sozialdemokratischen Schulerneuerungsprogramms. Warum gibt es die Gesamtschule bis heute nicht? Wer verhindert das?

Aktiv verhindert wird eine grundlegende Bildungsreform und damit eine inklusive, gemeinsame Bildung von der ÖVP und der FPÖ. Ich würde aber ergänzen: Es hat auch damit zu tun, dass die Sozialdemokratie nicht konsequent genug für die gemeinsame Schule kämpft bzw. gekämpft hat, sondern sich seit den 1970er Jahren mit Kompromissen wie der Einführung der Oberstufen-Realgymnasien, die für Absolvent:innen der Hauptschulen eine verbesserte Möglichkeit geboten haben, die Matura zu erreichen, zufriedengegeben hat.

Finnland wird immer als Musterbeispiel genannt, was das Schulsystem betrifft. Dort gibt es eine gemeinsame Schule für alle. Gibt es auch in Österreich Vorzeigebeispiele?

Selbst unterrichte ich an der AHS Theodor Kramer im 22. Bezirk, einer Neuen Mittelschule an einem AHS-Standort, von denen es vier weitere in Wien gibt. Leider werden unsere durchaus erfolgreichen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterrichten von “AHS-reifen” und “nicht-AHS-reifen” Schüler:innen in der Unterstufe zu wenig wahrgenommen.

In den letzten Jahren wurde das Thema Inklusion immer wichtiger. Österreich ist hier hinterher, Kinder mit Behinderungen werden weiterhin diskriminiert. Wo siehst du da Änderungsbedarf?

Es gibt einige gute Beispiele für eine funktionierende inklusive Schulbildung, leider werden diese in Österreich fast vollständig ignoriert. Besonders wichtig sind jedenfalls massive Investitionen in multiprofessionelle Teams. An allen Schulstandorten muss es Schul-Sozialarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen, Spezialist:innen für Schüler:innen mit besonderen Bedürfnissen (z.B. Sonder- und Heilpädagog:innen) geben. Im OECD-Schnitt ist das Verhältnis von Lehrerkräften zu „Unterstützungspersonal“ 8:1, in Österreich ist das Verhältnis 19:1.

Als Gewerkschafter hast du natürlich nicht nur mit Bildungspolitik zu tun, sondern auch mit den Anliegen deiner Kolleg:innen. Oft wird von einem Lehrer:innenmangel gesprochen. Gibt es den oder wie stellt sich das für dich dar?

Ja den gibt es, wobei der Lehrer:innenmangel besonders dramatisch in den Volksschulen ist, wo z.B. vorgesehene und dringend notwendige Doppelbesetzungen nicht möglich sind und stattdessen Kolleg:innen Überstunden machen müssen. Aber auch im AHS-Bereich werden beispielsweise weniger Sabbaticals genehmigt als früher. Viele junge Kolleg:innen sind gezwungen, zusätzlich zu einer Vollbeschäftigung nebenher ihr Master-Studium absolvieren zu müssen. Dabei haben junge Kolleg:innen im neuen Dienstrecht schon vier Stunden mehr Arbeitsverpflichtung als Kolleg:innen im „alten Dienstrecht“ an AHS und BMHS. Meinen Informationen zufolge haben in den letzten Jahren so viele junge Kolleg:innen den Job schon nach kurzer Zeit wieder an den Nagel gehängt wie noch nie zuvor.

Diejenigen, die an den Schulen bleiben, müssen trotz gegenteiliger Versprechungen von Minister Polaschek weiterhin viele Jahre lang Kettenverträge in Kauf nehmen.
Letztlich benötigt es eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer:innen und Lehrer. Ein massiver Ausbau der multiprofessionellen Teams an den Schulen wäre auch in dieser Hinsicht wichtig.

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