BILDUNGSPOLITIK | SCHULE

Reinhart Sellner: »Bildungspolitik für alle Kinder, unabhängig von Herkunft und Vermögen der Eltern, ist auch Sozialpolitik«

Reinhart Sellner war von 1971 bis 2012 Lehrer. Letztes Jahr ist er im Alter von 76 Jahren wegen akutem Lehrer:innenmangel zurück in seine alte Schule gekehrt. Der ehemalige Gewerkschafter ist überdies Mitinitiator der Initiative “Gemeinsame Bildung 2.0”, die für kommenden Donnerstag, 6. Juni, zu einem Bildungsaktionstag aufruft. Die Fragen hat Rainer Hackauf gestellt.

Obwohl du eigentlich seit rund zwölf Jahren im Ruhestand warst, bist du letztes Jahr als Lehrer in die Schule zurückgegangen, um deinen Kolleg:innen auszuhelfen – sogar Der Standard hat damals darüber berichtet. Wie waren deine Erfahrungen? Was hat sich verändert?

Reinhart Sellner: Ich hab´ die Schule gut gekannt, auch wenn ich viele junge Kolleg:innen noch nicht gekannt habe. Ich wurde als Langzeitvertretung mit einiger Erleichterung aufgenommen. Sie waren froh, dass ich die Stunden übernommen habe, die Schüler:innen der beiden Klassen und die Eltern, denk ich, auch.

Mitten im Schuljahr einsteigen, das spürt sich für alle Beteiligten anders an als ein Schulbeginn im September. Ich hab´ erst herausfinden müssen, wie der bisherige Unterricht gelaufen ist, welche Art von Unterricht die Schüler:innen gewohnt sind. Ich hab´ ihnen gesagt, dass ich in den Deutschstunden mit ihnen so arbeiten will, dass sie sich in den Themenangeboten und Aufgabenstellungen wiederfinden können. Und, dass ich drauf schauen werde, dass alle das Schuljahr mit einer positiven Jahresnote abschließen.

Ich habe bei meinem Wiedereinstieg keine großen Veränderungen in Motivation oder Verhalten der Kinder und Jugendlichen bemerkt. Die Erstklassler:innen waren neugierig, untereinander hilfsbereit, beim Geschichtenerzählen und -schreiben voll dabei. »Momo« hat ihnen gefallen und beim »Zauberer von Oz« – Hilf dir selbst, dann hilft die Oz – sind wir ins improvisierte Theaterspielen gekommen. Anders die 4. Klasse, die war eine vierte Klasse, wie ich sie in Erinnerung gehabt habe. Vier Wochen lang war cooles Abwarten und Austesten angesagt, aber dann hat es immer mehr gute Stunden gegeben, interessante Texte und auch heftige Diskussionen.

Neu waren für mich das elektronische Klassenbuch für Absenzen und Stoffeintragen, die Kommunikation übers Schulnetz und auch die Internet-Möglichkeiten für die Unterrichtsarbeit.

Das Thema Bildungspolitik liegt dir auch in deinem Ruhestand sehr am Herzen. Du bist Mitverfasser des Salzburger Manifest der Initiative Gemeinsame Bildung 2.0. Wer seid ihr und was wollt ihr mit der Initiative?

Reinhart Sellner: Wir wollen eine breite öffentliche Diskussion über die Gesamtschule. Wir sind daher für Inklusion und soziale Integration aller Kinder in einer gemeinsamen ganztägigen Pflichtschule. In diese sollen Mittelschule, AHS-Unterstufe und die 9. Schulstufe zusammengeführt werden. Das alles ohne Schulangst und Jahresnoten, die jedes Jahr über Aufsteigen oder Sitzenbleiben entscheiden. Wir wollen dazu beitragen, dass Parteien, die im Programm die gemeinsame Schule haben, für diese auch sozial, demokratisch, pädagogisch und bildungswissenschaftlich begründete Forderung offensiv eintreten. Sie sollen ihre Resignation überwinden, die seit Jahrzehnten verdrängte Auseinandersetzung mit konservativen Standespolitiker:innen aufnehmen und mit der für diesen tiefgreifenden Reformprozess notwendigen breiten Überzeugungsarbeit beginnen.

Und weil es den Pädagog:innen, Eltern, Sozialarbeiter:innen, Schüler:innen, Student:innen und Bildungswissenschaftler:innen der Gemeinsamen Bildung 2.0 ums Verändern geht, haben wir, gemeinsam mit anderen bildungsbewegten Initiativen und Organisationen, im letzten Jahr den ersten bundesweiten Aktionstag Bildung mitorganisiert. Dieses Jahr laden wir für den 6. Juni zu Aktionen und Kundgebungen ein.

Für Kommunist:innen sind Bildungsfragen stets auch Klassenfragen. Bildungsungleichheit wird in Österreich besonders stark vererbt. Was wären die wichtigsten Maßnahmen dagegen?

Reinhart Sellner: Eine Bildungspolitik für alle Kinder, unabhängig von Herkunft und Vermögen der Eltern, ist auch Sozialpolitik. So eine Politik bedeutet gemeinsame, inklusive Bildung vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung. Zentral für eine demokratische Wende in der Bildungspolitik ist der Neuaufbau des österreichischen Schulsystems, das immer noch auf Notendruck, Konkurrenz und Auslese setzt. Ein Schulsystem, das aus neugierigen Kindern gestresste Notenlerner: innen macht, das die 9- bis 10-Jährigen in Mittelschüler:innen und „höhere“ AHS-Schüler:innen auseinanderdividiert. Ein Schulsystem, das behinderte Kinder entgegen der von Österreich mitunterzeichneten UN-Konvention – in Kraft seit 2008 – ausgrenzt und in Sonderschulen abschiebt.

Überforderung und Unzufriedenheit im und mit dem Bildungssystem werden aber von immer mehr Eltern und Pädagog:innen nicht mehr resigniert zur Kenntnis genommen. Widerstand ist angesagt. Das Engagement und die Selbstorganisation der vielen Benachteiligten kann den Weg für die Zusammenarbeit aller Parteien und Gewerkschaften frei machen, die in ihren Programmen für eine soziale und demokratische Bildungsreform beschließen, aber in ihrer Praxis die Bildungsfrage nicht als soziale Kampf-Frage stellen.

Die Zwei-Klassen-Medizin ist in Österreich zwar immer mehr Realität, die überwiegende Mehrheit der Österreicher:innen lehnt diese Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung aber klar ab. Über die Zwei-Klassen-Schule wird hingegen kaum gesprochen. Was sind die strukturellen Ursachen für die jetzige Situation?

Reinhart Sellner: Der krisenhafte Stillstand des Bildungssystems hat mit der seit 1962 verfassungsmäßig abgesicherten Aufspaltung in Pflichtschulen der Länder und höhere Bundesschulen zu tun. Daraus folgen Kompetenzwirrwarr und teure Mehrfachverwaltung, die nicht den Kindern nützt, sondern der machtbewussten ÖVP-Landes-Parteipolitik. Pflichtschul-Lehrer:innen sind zwar vom Bund bezahlte, aber vom Bundesland angestellte Landesbedienstete, während AHS- und BMHS-Lehrer:innen im Gegensatz dazu Bundesbedienstete sind. Kurz gesagt, Mittelschule ist Landeskompetenz und AHS-Unterstufe ist Bundeskompetenz. Eine gemeinsame Pflichtschule hat daher eine gemeinsame Bundeskompetenz zur Voraussetzung. Dafür braucht es eine stabile Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Den Bewahrer:innen der Zwei-Klassen-Schule geht es nicht um eine bestmögliche Schule für alle Kinder, nicht ums vielzitierte Kindeswohl, auch nicht um die demokratische Zukunft unserer Gesellschaft, sondern um landes- und parteipolitischen Machterhalt. Gegen dieses System und für eine kinder- und menschenfreundlichere, sozial gerechtere Schule steht an immer mehr Schulen der Einsatz von Pädagog:innen, Schulleitungen und Eltern für das beharrliche Nützen und Ausweiten bestehender Freiräume. Das stößt an systemische und budgetäre Grenzen, aber die Risse im Beton werden mehr.

Du hast es schon angesprochen, das Thema Inklusion ist in den letzten zwei Jahrzehnten als wichtige Forderung progressiver Bildungspolitik hinzugekommen. Was ist das Ziel, woran hapert’s hier, was müsste sich ändern?

Reinhart Sellner: Wir leben in einer bunten, diversen Gesellschaft. Kinder sind nach Herkunft, entwickelten Fähigkeiten und Interessen und individuellen Stärken und Einschränkungen verschieden. Sie haben alle das Recht auf Bildung, auf Integration und Inklusion in Kindergärten, Schulen und weiterführende Bildungseinrichtungen, auf Teilhabe am beruflichen, öffentlichen und kulturellen Leben. Ausschluss, Abschieben in Sondereinrichtungen bedeutet den Verlust von Lebensqualität, macht die Behinderung zum privaten Problem und überfordert damit Kinder und Eltern. Auch die Durchsetzen des Rechts auf Inklusion ist eine soziale Frage, eine Kampffrage.

Die Lösungen für die Bildungsmisere liegen eigentlich schon lange am Tisch. Die Forderung nach Einführung der Einheitsschule war ein Kernstück des von Otto Glöckel verkündeten Schulerneuerungsprogramms der 1920er Jahre. Trotzdem bewegt sich bis heute scheinbar nichts Substanzielles. Trügt der Schein? Woran liegt das?

Reinhart Sellner: Es gibt Widersprüche in unserer kapitalistischen Gesellschaft und im Bildungswesen, die sich zuspitzen, sie erkennen und zum Tanzen bringen, darum geht´s. Ein so ein Widerspruch ist etwa, dass von Industriellenvereinigung und Teilen der Wirtschaftskammer in Sozialpartnergesprächen sichtbares Interesse an einer gemeinsamen Bildung vorhanden ist. Hier geht es dann um das „Ausschöpfen aller Begabungsreserven“, an mehr und besser qualifizierten Arbeitskräften, die „der Wirtschaft“ fehlen, aber auch um die Rücksichtnahme auf die ÖVP-Parteilinie „pro Gymnasium“ und gegen die Gesamtschule.

Ein anderer Widerspruch ist das wahltaktische Verschweigen der Forderung nach einer Gesamtschule durch die SPÖ. Denn es gibt viele Lohnabhängige mit mittleren und höheren Einkommen, die ihren Kindern zwar kein Vermögen vererben können, aber wenigstens den Startvorteil Gymnasium verschaffen wollen. Dazu braucht es das Nebeneinander von AHS-Unterstufe und Mittelschule – nicht aber eine gemeinsame Pflichtschule.

Und noch ein Widerspruch, Österreich ist zwar eine demokratische Republik, in der aber die Prägung durch Jahrhunderte an Katholizismus, Feudal-Absolutismus und Untertänigkeit immer noch ihr zombiehaftes Unwesen treibt. Ich meine daher, vorwärts und nicht vergessen…

Nach der Selbstauflösung des KPÖ-nahen »Bund Demokratischer Lehrer und Erzieher Österreichs« warst du in der »Österreichischen LehrerInneninitiative« (ÖLI-UG) aktiv. Überdies bist du Mitgründer der »Unabhängigen GewerkschafterInnen für mehr Demokratie in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst« kurz UGÖD und warst nach einem jahrelangen Rechtsstreit sogar der erste Vertreter der UG im GÖD-Vorstand. Was hat dich, trotz vieler Widrigkeiten in einer konservativen Organisation wie der GÖD, dazu motiviert?

Reinhart Sellner: Freude am Beruf, an der Arbeit mit Kindern und Kolleg:innen, am gemeinsamen Verstehen und Lösen von Problemen des Arbeitsalltags. Beharrlich und freundlich und solidarisch an real vorhandene Grenzen gehen, die nur durch organisiertes gewerkschaftliches und politisches Handeln zu überwinden sind. Der Eintritt in die KPÖ, der Austausch und die Zusammenarbeit mit Genossinnen und Genossen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern und die theoretische Auseinandersetzung mit Bildung und Unterricht haben meinem lehrerlichen und gewerkschaftlichen Tun auch Motivation und Richtung gegeben. Ich bin davon überzeugt, Sozialismus ist möglich und notwendig.Der Satz eines Junglehrers fällt mir ein, der in den 70er-Jahren für unsere BDL-Zeitung einen Beitrag zum Thema „Praxisschock“ geschrieben hat: „Wer den Kampf gegen dieses Schulsystem aufgibt, der hat den Kampf gegen seine Schüler bereits aufgenommen.“

Am 6. Juni findet ein österreichweiter Bildungsaktionstag statt. Im letzten Jahr gab es eine Demonstration mit einigen tausend Teilnehmer:innen in Wien. Dieses Jahr ruft auch die KPÖ zur Beteiligung auf. Hast du einen Überblick? Wo wird da in diesem Jahr was passieren?

Reinhart Sellner: Vorbereitet werden diese parteiunabhängig organisierten und koordinierten Kundgebungen, Bildungs-Picknicks, Demos und auch Flashmobs In Wien, St. Pölten, Linz, Innsbruck und Bregenz. Getragen werden sie von Eltern-, Pädagog:innen, Student:innen, Schüler:innen, Inklusions- und Gesamtschul-Initiativen, Bildungswissenschaftler:innen, Gewerkschafter:innen – der aktuelle Stand findet sich auf unserer Webseite www.aktion-bildung.at.

Hauptforderungen sind dabei: das Recht auf Inklusion vom Kindergarten bis zur Uni; die gemeinsame inklusive und ganztägige Schule aller 3-15-Jährigen; die Ausfinanzierung des Bildungsbereiches, für mehr Personal und für mehr und ihre Aufgaben angemessene Ressourcen aller Bildungseinrichtungen.

Seit fast 50 Jahren werkst du als politischer Liedermacher. Wann und wo können wir dich wieder sehen?

Reinhart Sellner: Am 29. August im Rahmen des Alsergrunder Kultursommers im Thury-Hof, einem traditionsreichen Gemeindebau im 9. Bezirk. Alles unplugged und gemeinsam mit meinem Freund, dem Linzer Bluesgitarristen und Poly-Lehrer Timo Brunnbauer – »Schluss mit Phrasen. Lieder von gestern nach heute und morgen«. Und dann trete ich vermutlich auch beim Volksstimmefest 2024 auf der Sigi-Maron-Bühne auf.

Treffpunkt Aktionstag Bildung

Treffpunk der KPÖ in Wien ist am 6. Juni um 15 Uhr im Sigmund-Freud-Park (nahe der Sigmund-Freud-Stele). Wir freuen uns über alle unsere Lehrer:innen, Schüler:innen und Bildungsinteressierten, die sich mit uns an dem Aktionstag beteiligen! Weitersagen & Freund:innen mitnehmen natürlich erlaubt! Informationen zum Aktionstag unter: www.aktion-bildung.at.

Arbeitskreis Bildungspolitik der KPÖ

Überdies freuen wir uns über Interessierte an unserem Arbeitskreis Bildungspolitik. Ob Elementarpädagog:in, Lehrer:in, Uni-Angestellte:r oder Bildungswisschenschaftler:in oder Schüler:in – unser Arbeitskreis richtet sich an alle Personen, die mit dem Bildungsbereich zu tun haben und sich darüber austauschen wollen. Hier könnt ihr euch melden!

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Reinhart Sellner

Reinhart Sellner war Lehrer und als solcher auch langjährig in der Unabhängigen GewerkschafterInnen für mehr Demokratie in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst kurz UGÖD aktiv. Er setzt sich in unterschiedlichen Initiativen weiterhin für mehr Bildungsgerechtigkeit ein. Überdies ist Reinhart Sellner politischer Liedermacher.

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