BLOGINTERVIEW

Sandra Steinmüller: Sandra Steinmüller: ME/CFS Betroffene werden von der Politik allein gelassen



Sandra ist seit ihrer COVID Erkrankung von ME/CFS, einer schweren Erkrankung mit massiven Einschränkungen, betroffen. KPÖ Spitzenkandidaten Tobias Schweiger erzählt sie im Interview, über die unzureichende Versorgung, die Lippenbekenntnisse von Politiker:innen und was es konkret bräuchte, um den Betroffenen zu helfen.

Seit wann weißt du, dass du von ME/CFS betroffen bist?

Nachdem sich die Long Covid Symptomatik nicht gebessert, sondern mit der Zeit sogar verschlimmert hat und immer mehr und neue Symptome dazu gekommen sind, hat mir eine Allgemeinmedizinerin vor über einem Jahr eine Überweisung für die Neurologie mit Verdacht auf ME/CFS ausgestellt. Es hat dann eine Weile gedauert, bis ich tatsächlich eine Neurologin gefunden habe, die die Diagnose überhaupt zu stellen wagt, und die auch neue Patient:innen aufnimmt. ME/CFS scheint nämlich nach wie vor ein ominöses Mysterium in der Fachschaft zu sein, obwohl diese Erkrankung schon vor fast 100 Jahren das erste Mal in Büchern beschrieben worden ist und es mittlerweile auch klare Bewertungskriterien dafür gibt.
Die Diagnose zum “klinischen Vollbild” habe ich nach vielen Testungen seit wenigen Monaten.

Kannst du uns etwas über ME/CFS erzählen? 

ME/CFS steht für “Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom” und wird beschrieben als “chronische, komplexe neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die zu schweren körperlichen Einschränkungen führt”, wobei die Krankheit in der Regel – aber nicht nur! – nach Infektionen beginnt.
Konkret bedeutet das eine Vielzahl an Symptomen und Problemen mit dem ganzen Körper: schwere körperliche Schwäche, massive Schlafstörungen, Konzentrations- und Merkstörungen, Herzrasen, Schwindel, ein starkes grippeähnliches Krankheitsgefühl, generell erhöhte Infektanfälligkeit, Magen-Darm-Probleme, gestörte Regulierung der Körpertemperatur, Muskelzittern, Muskel-, Gelenk-, und Kopfschmerzen, Krämpfe, Überempfindlichkeit bei Geräuschen, Gerüchen oder Licht, und noch etliche weitere.
Das Leitsymptom, also das Symptom, das für die Diagnose ME/CFS notwendig ist, heißt “Post Exertional Malaise” (“PEM”). PEM ist eine Verschlechterung des Zustands, wenn Betroffene über ihre individuellen Belastungsgrenzen gehen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Anstrengung, sondern auch um geistige und emotionale. Je nach Schweregrad der Erkrankung können aber schon die einfachsten Aktivitäten Anstrengung bedeuten und PEM auslösen: Zähneputzen, Duschen, ein Gespräch oder allein das Umdrehen im Bett. Diese Zustandsverschlechterung, die auch “Crash” genannt wird, tritt bis zu 48 Stunden nach der Überbelastung auf und kann Stunden, Tage oder auch dauerhaft anhalten.

Wie du das beschreibst, verschlechtert sich die Krankheit auch mit Stress? 

Stress ist die Nemesis der Betroffenen. Sehr vereinfacht erklärt sind das Nerven- und Immunsystem von ME/CFS-Patient:innen ständig im Ausnahmezustand, der Stoffwechsel ist gestört. Das allein kostet dem Körper schon so viel Kraft, dass jede zusätzliche Aktivität Energie verbraucht, die einfach oft nicht da ist. Deshalb ist auch der noch immer vorherrschende Irrglaube, dass es sich bei dieser Krankheit um eine rein psychiatrische handelt, so fatal. Bei Depressionen oder ähnlichen Problemen helfen Aktivierung und Sport im Normalfall. Bei Long Covid und ME/CFS verschlimmert das die Krankheit aber massiv und kann sogar zur dauerhaften Bettlägerigkeit führen. Kein Arzt würde auf die Idee kommen, einer Patientin mit z.B. Grippe das Laufband als Therapie zu empfehlen. Bei ME/CFS ist das aber leider die gängige medizinische Praxis, weil die Erkrankung von unkundigen Ärzt:innen falsch diagnostiziert wird.
Für ME/CFS gibt es aufgrund der bisherigen schlechten Erforschung (noch) kein Heilmittel. Im Moment gibt es lediglich Therapien und Medikamente, die die Beschwerden (teilweise) lindern oder die Betroffenen beim Umgang mit der Erkrankung unterstützen können.

An dieser Stelle ist aber auch zu sagen: Die Symptome und der Schweregrad von ME/CFS können variieren. Nicht alle Betroffenen haben alle Symptome (gleichzeitig) und diese können eben z.B. durch Medikamente, Einhaltung einer strikten Diät oder genaues Achten auf die persönlichen Grenzen zumindest gemindert werden.

Wer ist davon betroffen?

In Österreich waren vor der Covid-19-Pandemie ca. 80.000 Menschen von ME/CFS betroffen, wobei sich die Zahlen durch die Pandemie auf 160.000 verdoppelt haben sollen. Weltweit ist von mindestens 23 Millionen auszugehen. Die Krankheit betrifft vor allem junge Menschen im Alter von 10 bis 19 und 30 bis 39 Jahren. Außerdem erkranken an ME/CFS mehrheitlich Frauen: Schätzungen zufolge sind in etwa 7 von 10 Patient:innen weiblich. 

Die Verteilung nach Geschlecht sowie die schleppende Anerkennung der Erkrankung erinnern übrigens stark an die medizinische Geschichte von Multipler Sklerose. Auch hierbei handelt es sich um eine schwere chronische neurologische Erkrankung, Frauen sind deutlich öfter betroffen und die Krankheit ist anfangs auch psychiatrisch erklärt worden – sie ist einfach als “Hysterie” abgetan worden. Diese allgemeine Tendenz, dass körperliche Beschwerden und Schmerzen von Frauen nicht ernstgenommen werden, ist ja mittlerweile auch in genügend Studien aufgezeigt worden und sicherlich kein Phänomen der Vergangenheit. Der Kampf um mehr Forschung und Aufmerksamkeit für ME/CFS steht daher auch ganz klar im Zusammenhang mit dem breiteren Kampf um die Anerkennung und Gleichstellung von Frauen im Gesundheitssystem.

Und natürlich darf man bei “Betroffenen” nicht die pflegenden Angehörigen vergessen – auch sie leiden massiv unter den Umständen und den fehlenden Hilfsangeboten.

Welche Probleme bringt die Erkrankung im Alltag mit sich?

Es fühlt sich an, als hätte bei meinem Leben jemand auf “Stopp” gedrückt. Ich war vor der Erkrankung ein aktiver Mensch, hatte einen gut bezahlten Job, der mir Spaß gemacht hat, und war als Leistungssportlerin in einem Flagfootball-Team sehr erfolgreich. Jetzt ist es so, dass ich einfachste Tätigkeiten nicht mehr selbst machen kann. Den Haushalt übernehmen andere für mich. Sie gehen Lebensmittel einkaufen oder zur Apotheke für mich oder müssen mich zumindest begleiten, wenn ich einen guten Tag habe und das Haus verlassen kann. Für mich wird gekocht. Ohne diese Unterstützung wäre ich verloren. Das bedeutet aber auch, dass die Erkrankung nicht nur mich selbst betrifft, sondern auch andere. Es ergibt sich für meine mich pflegenden Angehörigen eine Doppelbelastung, die, genauso wie ME/CFS, nicht anerkannt wird. 

Welche Erfahrungen hast du mit dem österreichischen Gesundheits- und Sozialsystem gemacht?

Keine guten. Tatsächlich bin ich nach wie vor fassungslos, wie Betroffene behandelt werden, und das, obwohl ich vor der Erkrankung schon wusste, dass das österreichische Gesundheitssystem kaputt gespart ist.

In Österreich haben Kranke längstens 12 Monate Zeit, wieder gesund zu werden (im Regelfall). In dieser Zeit werden an Post Covid bzw. ME/CFS Erkrankte oft zu Rehabilitationen genötigt, die bei der Erkrankung kontraproduktiv sind und alles nur schlimmer machen. Ärzt:innen vor Ort kennen oder verstehen die Erkrankung oft nicht richtig und unterstellen den Betroffenen z.B. mangelnde Motivation, wieder zu genesen. Das ist eine fürchterliche Erfahrung. Man leidet ohnehin schon an der Krankheit und wird dann von Menschen, die einem eigentlich helfen sollten, auch noch fertig gemacht. Natürlich bemüht man sich dann, das vorgegebene Pensum zu erfüllen und geht immer wieder über die eigenen Grenzen, weil man den Ärzt:innen glaubt. Man hört immer weniger auf den eigenen Körper, der ein Warnsignal nach dem anderen schickt. Bei mir haben sich die Symptome mit jeder Reha, jedem Gutachter-Termin, jedem Arzt, der keine Ahnung von der Erkrankung hatte, immer mehr verschlechtert bzw. haben sich neue, zusätzliche Beschwerden eingestellt.

Dazu kommt dann auch noch, dass man die wenigen Ärzt:innen, die sich mit ME/CFS tatsächlich auskennen, oft privat zahlen muss und unterstützende Therapien bzw. manche Medikamente oder Vitamine nicht oder nur teilweise von der Krankenkasse übernommen werden. Ich konnte mir die Infusionen, die mir etwas geholfen haben, irgendwann schlichtweg nicht mehr leisten – das Ersparte war aufgebraucht.

Und nach den 12 Monaten?

Nach den 12 Monaten Krankenstand ist man bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) ausgesteuert. Es gibt aber einfach Erkrankungen, die länger dauern können, wie man am Beispiel Post Covid gut sehen kann. In solchen Fällen springt dann theoretisch die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) ein. Erkrankte haben dort gesetzlichen Anspruch auf Rehabilitationsgeld, wenn Personen “vorübergehend (mindestens sechs Monate) aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Diese Geldleistung soll die Betroffenen unterstützen, wieder arbeitsfähig zu werden”, heißt es auf der Website der ÖGK.
De facto wurden und werden Menschen, die an Post Covid oder ME/CFS erkrankt sind, von der PVA aber nicht unterstützt, sondern stattdessen ebenfalls schikaniert und in die permanente Zustandsverschlechterung gedrängt. Der PVA vorgelegte Befunde mit Diagnosen von auf ME/CFS spezialisierten Ärzt:innen, die sich an den aktuellen medizinischen Stand der Wissenschaft halten, werden nach oft nur 15-minütigen Gesprächen mit PVA-Mediziner:innen einfach umgeschrieben. Alles wird psychiatrisch erklärt oder es wird behauptet, dass Betroffene die Beschwerden nur vortäuschen. Es werden psychologische Tests gemacht, die für die Erkrankung gar nicht geeignet sind, obwohl es bereits seit über 20 Jahren klare Bewertungskriterien gibt, anhand derer die Diagnose ME/CFS klinisch gesichert werden kann! Das muss man sich so vorstellen, als würde ich mit einem offenen Bruch zum Arzt gehen. Der misst dann bei mir Fieber und sagt: “Normaltemperatur, Sie sind gesund!”, und schickt mich mit dem offenen Bruch wieder nach Hause.

Welche Folgen hat das für Betroffene? 

Die Folge dieser Fehldiagnosen ist – neben drohender Zustandsverschlechterung und Chronifizierung der Symptome – dass man als arbeitsfähig erklärt wird, obwohl man das nicht ist, und somit keinen Anspruch auf das Rehabilitationsgeld oder andere Formen von Rehabilitation mehr hat.

Der nächste Schritt im österreichischen System ist dann optional eine Klage gegen den ablehnenden Bescheid der PVA, obligatorisch der Weg zum Arbeitsmarktservice (AMS). Dort müssen Betroffene dann dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Da sprechen wir gerade von Menschen, die oft keine 2 Minuten stehen können, ohne zu kollabieren. Die Licht, Geräusche und Gerüche nicht ertragen. Die starke Schmerzen in Gelenken und Muskeln haben. Die chronisch erschöpft sind. Und auch wenn das AMS eigene Arbeitsmediziner:innen hat, die den Betroffenen nach einiger Zeit durch selbst durchgeführte Beurteilungen ganz klar Arbeitsunfähigkeit attestieren, interessiert das die PVA nicht. Denn auch die gerichtlich beeidigten Gutachter:innen, die im Fall einer Klage gegen die PVA von den Betroffenen konsultiert werden müssen, verfahren in der Bewertung der Erkrankung ME/CFS gleich wie die PVA-Mediziner:innen selbst: Unwissen oder sogar Skepsis ob der Existenz der Krankheit, ungeeignete Tests und falsche Diagnosen. So werden wir langsam aber sicher in die Armut gedrängt: Medizinisch unversorgt und als Simulant:innen denunziert.

Dasselbe erleben wir Betroffene übrigens auch bei Anträgen auf Pflegegeld (PVA) oder auf den Behindertenpass (Sozialministeriumservice).

Das sind wirklich schlimme Zustände…

Betroffene unter 27 Jahren, die noch nicht die für die PVA notwendigen Versicherungsmonate erarbeiten konnten, und selbstständige Kleinstunternehmer:innen erzählen mir von noch katastrophaleren Zuständen. Erstere erhalten lediglich Familienbeihilfe (sofern anspruchsberechtigt) und landen direkt bei der Mindestsicherung, zweitere erhalten bei Krankheit 20 Wochen lang eine “freiwillige Unterstützungsleistung (ohne gesetzlichen Anspruch) von der SVS (Sozialversicherung der Selbständigen)”. Das ist laut einer Betroffenen ein Betrag von maximal 37,28 Euro pro Tag. Sie hat mir erzählt, dass sie in etwa 800 Euro monatlich erhalten hat, davon aber neben Lebenshaltungskosten noch Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, Arztselbstbehalte und Medikamente bezahlen hat müssen. Zusätzlich zu den privaten Kosten laufen auch noch die Kosten für den Arbeitsplatz weiter. Nach den 20 Wochen gibt es keine finanzielle Unterstützungsleistung mehr, die SVS-Beiträge müssen dennoch weiter bezahlt werden.

Wie kann es sein, dass so wenige Ärzt:innen über ME/CFS Bescheid wissen?

ME/CFS ist in Österreich noch immer nicht Teil der medizinischen oder pflegerischen Ausbildung, wobei die Med Uni Graz das gerade als Vorreiterin ändert. Dazu kommt, dass von der Ärztekammer approbierte Fortbildungen genau dieses falsche Bild der Erkrankung vermitteln, dass es sich bei ME/CFS “nur” um psychiatrische oder psychosomatische Beschwerden handelt bzw. dass die Mehrheit der Betroffenen nur simuliert.

Wie nimmst du den politischen Umgang mit der Krankheit wahr?

Der Verein IGSAFE (Interessengemeinschaft: Soziale Absicherung Für Erkrankte) versucht seit einiger Zeit bereits, mit Schlüsselpersonen aus Politik und Medizin zu sprechen. Was ich als Beobachterin da mitbekomme, sind hauptsächlich Lippenbekenntnisse von Politiker:innen. Es wird zwar Verständnis ausgesprochen, gleichzeitig aber auf andere gezeigt, die zuständig wären oder auf den “nationalen Aktionsplan” verwiesen – sofern sich Parteien überhaupt zu der Problematik zu Wort melden. Tatsächlich ist bis jetzt die KPÖ die einzige Partei, die sich der Thematik intensiver annimmt, ohne uns Betroffene nur zu vertrösten.

Gefühlt wurde die Corona-Pandemie von der österreichischen Politik für beendet erklärt und würde sie sich jetzt mit an ME/CFS und Post Covid Erkrankten beschäftigen, würde da wieder eine Wunde aufgerissen werden und entsprechend auch eine Welle an Kosten auf den österreichischen Staat zukommen. Da ist es natürlich einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken und sich nicht zu intensiv mit den Folgen und den zehntausenden Erkrankten zu beschäftigen.

Welche Forderungen stellen du und andere Betroffene an die Politik?

Das sind ein paar sehr konkrete Dinge: 

  • Entstigmatisierung und Anerkennung der Erkrankung
  • Aufnahme der Erkrankung in die Ausbildung von medizinischem und pflegerischem Personal
  • Medizinisch akkurate Bewertungskriterien für die Einstufung der Arbeits(un)fähigkeit
  • Medizinisch akkurate Schulung und Überprüfung der Gutachter:innen, die diese Einstufungen vornehmen
  • Anlaufstellen für Betroffene und (pflegende) Angehörige
  • Finanzielle Sicherheit für alle Betroffenen: Angst und Druck verschlimmern unsere Krankheit
  • Ein gut finanziertes Gesundheitssystem, in dem Beschäftigte und Patient:innen bessere Rahmenbedingungen haben



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